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Benachrichtigungstext

„Fire of Life“  -   Reiseeindrücke im Spiegel einer Eurythmie-Tournee

Es gibt nur wenige Eurythmiegruppen die in dieser Regelmässigkeit die künstlerische Eurythmie weltweit zur Aufführung bringen, wie das Lichteurythmie-Ensemble, Arlesheim unter der Leitung von Thomas Sutter. Allein im Jahre 2015 waren es bis Ende Dezember über 80 Gastspiele mit den verschiedensten Programmen. Folgender Reisebericht begleitet eine verkleinerte Gruppe (1) während einer zweiwöchigen Amerika-Tournee Ende Oktober vergangenen Jahres.

„Das Künstlerische voraus lebendig.“ (2)

„Vorzugreifen“ ist ein stilistisches Mittel der Eurythmie, das nicht nur im Aufbauen und Gestalten eines Stücks eine entscheidende Rolle spielt, sondern auch im Ineinandergreifen von Lebensmotiven einer Arbeitsgemeinschaft. Es war in China während der Teilnahme an der 5-Jahreskonferenz der Waldorf-Pädagogik-Ausbildung Peking, welche uns mit unseren künftigen Gastgebern in den USA zusammen brachte, und unsere Amerika-Tournee konkretisierte. So ergaben sich acht verschiedene Aufführungsorte zwischen Philadelphia, Boston und New York.

„Fire of Life“, unser englischsprachiges Programm, hat seit der Premiere anlässlich einer Gastspiel-reise nach Irland 2013 einige Metamorphosen erfahren. Unter anderem ergänzt durch das indische Märchen „Bhakta Dhruva“, als wir vor zwei Jahren unsere Freunde Aban und Dilnawaz Bana in Nordindien besuchen durften.

Und „Fire of Life“, also Lebensfeuer, braucht man auch, um als Wander-Truppe in schönster historischer Tradition, die bei allem selbst Hand anlegt (Organisation, Autofahrten, technischer Bühnenaufbau, Beleuchtung, Schneiderei), zu bestehen! Die Aufführungsdichte nimmt zuweilen hochleistungssportliche Züge an – nur dass uns der entsprechende Sponsor dieser Leistungsklasse noch fehlt. Es ist der Enthusiasmus, zu Proben um Aufzuführen, der die Gruppe zusammen hält.

„Indian Summer"

Der Ersteindruck von Amerika war der weite, strahlend klare Himmel über Philadelphia. Die Natur, strotzend und kräftig,  leuchtete in den sonnendurchtränkten Farben des Indian Summers. Zwei grosszügige, gemietete Vans erlaubten uns während den kommenden 17 Tagen eine gewisse Selbständigkeit in der Mobilität. Das Camphill Village Kimberton Hills, eine ökologische Siedlung mit rund 120 Mitarbeitern und Bewohnern, besteht seit 1972. Es war Karl König, der bei einem Besuch des damaligen Besitzers, einem Industriellen, der im Ölgeschaft tätig war, visionär das Haupthaus als ideale Grundlage für eine Camphill-Siedlung imaginierte. Erst nach dem Tode des Besitzers, schenkte dessen Schwiegertochter das inzwischen auf ca. 180 Hektaren angewachsene Grundstück der heil-pädagogischen Bewegung. Ehrenfried Pfeiffer lebte hier einige Zeit. Ein biologisch-dynamisch bewirtschafteter Bauernhof versorgt assoziativ, d.h, ohne effektiv am Markt teilzunehmen, rund 250 Gemüse-Abonnenten. Die Gemeinschaft verzichtet bewusst auf staatliche Subventionen, bleibt dadurch aber frei von unliebsamen Auflagen, wie uns Sherry Wildfeuer, die seit 42 Jahren dabei ist, berichtete. Für die ältesten Bewohner wurde, dank einer Spende, ein vorzügliches und behagliches „Stöckli“ eingerichtet, in dem die notwendige, medizinische und therapeutische Pflege gelebt werden kann. Natürlich spielt die Kunst eine grosse Rolle, weswegen unsere erste Erwachsenen-Aufführung sich in der wunderbaren Rose Hall ereignen durfte. Kinder und Jugendliche hingegen, von denen viele eine 1:1-Betreuung brauchen, leben und gehen im nicht weit entfernten Beaver Run zur Schule. Dort wurden wir von Gillian Shoemacker bestens empfangen und umsorgt. Im hügeligen, waldigen Gelände stehen eine Vielzahl an verschiedensten Gebäuden locker verstreut: manche organischer Architektur, andere über die Jahre hin mehrfach umgebaut. Auffallend viele jugendliche Mitarbeiter und Auszubildende, Hospitanten der Heilpädagogik. Einer der Gründerväter war Carlo Pietzner, der die Camphill-Bewegung in ganz Nordamerika in  den späten 1960er Jahren mit aufgebaut hat. Die inzwischen pensionierte Becky Rutherford hatte uns in China für ihre Schützlinge eingeladen, damit wir ihnen unsere Variante des „Midsummernightsdream“ von William Shakespeare vor Augen führen konnten. Auch das Unterstufenprogramm für die Kleinsten wurde dankbar aufgenommen.

„Stars and Stripes“

Es war zunächst das ländliche Amerika, das wir kennen lernten. An Seitenstrassen reihten sich die einheitlich gebauten, einstöckigen Holzhäuschen mit der vorgelagerten Veranda und dem obligaten Schaukelstuhl. Bestückt war fast jedes Haus mit ein oder sogar zwei Nationalflaggen. In der Nähe von Kimberton lag die „Great Barrington Waldorf Scool“. Die lieben Kleinen wurden dieser Bezeichnung gerecht, in dem sie höchst artig mit ihrem eigenen Stühlchen in den Saal vorrückten, und die dortige Eurythmie-Lehrerin Patti Regan unisono zurück grüssten. Mit dem russischen Märchen „The Turnip“,„Die Rübe“, hatten wir die Kinder von Anfang an auf unserer Seite. Das unförmige Kostüm dieses Wurzelgewächses löste beim blossen Anblick schon grosse Heiterkeit aus. Noch mehr, als die Rübe dann bewässert wurde, und sich so schön räkelte. Durch die wunderbare künstlerische und organisatorische Mitwirkung von Patrizia Mc Alice, einer Eurythmistin vor Ort als Hündchen, konnte die widerspenstige Rübe schlussendlich doch noch aus der Erde herausgezogen, und das Aufzählmärchen einem glücklichen Ende entgegen geführt werden.

„The Big Apple“

An unserem ersten freien Tag lockte uns die „Tannhäuser“-Inszenierung von Otto Schenk in die Metropolitan Opera von New York. Tagsüber flanierten wir durch den Central Park. Nach dem Mittagessen führte uns der Weg flugs ins Frick-Museum, einer privaten Sammlung von Impressionisten. Dort wartet auf uns eine Begegnung mit Rembrandts „Polnischem Reiter“. Schon allein dafür ist das Museum einen Besuch wert. Ein Blick in die wissenden Augen seines Selbstportraits verrät die Geistesschülerschaft.  Abends dirigierte der seit längerem erkrankte James Levine  im Rollstuhl ganz vorzüglich die New Yorker Philharmoniker, hochkarätige Solisten, den Chor und die Balletttänzer. Die vielen Massenszenen entrollten gekonnt lebende Bilder. Überrascht hatten uns die vielen jugendlichen Besucher.  Mutig waren wir nach Manhatten eingefahren, hatten dort übernachtet. Lärmig ergoss sich eine erste Verkehrslawine ab 05.30 früh und spülte uns Stunden später, gestärkt nach einem American Breakfast wieder aufs Land.

„Christliche Kultur versus Freiheit des Einzelnen“

Wieder eine Fahrt durch endlose Wälder in buntesten Farben, vorbei an unzähligen Seen, Teichen und Tümpeln. Im Camphill Village in Copake empfing uns Nadja Jiquet-Covex Blanchere bei novembrig kühlen Temperaturen. Umso mehr luden die verschiedenen Häuser in die gemütlichen Wohnzimmer ein, die - zum Teil richtig feudal mit Flügel, etlichen Sesseln, Bildern und einem Kamin ausgestattet, einem zu Hause fühlen liessen. Wie in allen Camphills war auch hier keine einzige Haustüre verschlossen. Was für ein Gegensatz zu der amerikanischen Gepflogenheit, „Eindringlinge“ – und wären es auch nur Wanderer! – unter Androhung von Waffengewalt vom eigenen Grundstück – und verliefe die Grenze auch mitten durch den Wald! – abzuhalten. 

„Einzigartigkeit“

Was für ein Segen ist überhaupt diese ganze Camphill-Bewegung, die mit ihren Lebensgestaltungen Inseln der christlichen Kultivierung darstellen. Wie vielen höchst originellen Persönlichkeiten sind wir innerhalb der Bewohnerschaft während unserer Reise nicht begegnet. Die Art und Weise wie mancher Hausvater, Hausmutter dieser Form von Einzigartigkeit seiner Schützlinge respektvoll Rechnung trägt, hat uns tief beeindruckt. Die Abendaufführung in Copake war denn auch ein Fest: die Bewohner, Mitarbeiter und Gäste gingen von Anfang an so innig mit, dass die Funken zwischen Bühne und Publikum hin und her flogen. Die erstaunten, freudigen, mitleidenden Ausrufe und Seufzer der Zuschauer befeuerten die Eurythmisten und Sprecher zu Höchstleistungen, sodass man am Ende den Eindruck hatte, wir hätten wahrlich zusammen aufgeführt.

„Halloween in Spring Valley“

Am Wochenende etwas verschlafen empfing uns das Mekka der amerikanischen Eurythmie unweit von New York mit einem abendlichen, waldorfpädagogisch gerechten Abendrundgang zu Halloween. Während das heidnische Treiben andernorts gewiss grausige Züge annahm, hatten die Eltern und Freunde der dortigen Rudolf-Steiner-Schule hatten einen mit Laternen abgegrenzten Märchen-Pfad draussen angelegt, den die Kleinen mutig zu betreten hatten. Ging es doch um nichts weniger, als um die Überwindung von Grausen, Furcht und Schrecken in den Grimm‘schen Märchen, welche  dramatisch im Halbdunkeln von realen Darstellern in Szene gesetzt wurden. Zuweilen wahrlich eine Mutprobe! Empfangen von Barbara Reynold, brauchten auch wir unsererseits gewisse Mutkräfte, um auf der schönen Bühne der dortigen Eurythmieschule zu bestehen. Ein geschultes Publikum fand sich reichlich ein, denn die Spring Valley-Group hatte ihrerseits erst kürzlich den „Midsummernights-dream“ aufgeführt. Liebenswürdigerweise luden uns die Kollegen für ein nächstes Mal dazu ein, mit den Eurythmie-Studenten unterrichtend zu arbeiten.

„All Souls Day“

Anderntags waren wir in der „Triform-Community Camphill“ bei Copake, vonRan Shimizu, einer japanischen Eurythmistin, gebeten, am Allerseelentag die Feier für die Verstorbenen auszurichten. Schwerpunkt des Programms bildeten gebetsartige altirische Sprüche, mit Texten von Christian Morgenstern und Rudolf Steiner. Nebst einem modernen Musikteil mit ausgeprägtem Intervall-charakter in atonalem Stil, bildeten die übrigen Musikstücke einen expressiven Rahmen. Den Auftakt des Gedenkens machte in schönster Weise ein Chor von Triform-Mitarbeitern, welche Gesangs—Kompositionen von Jürgen Schriefer und Paul Baumann zu Gehör brachten. Die Lieder führten eine Schwellenstimmung herbei, an die wir  mit unserem Beitrag bestens anknüpfen konnten.

„Boston – die europäischste Stadt Amerikas“

Unsere zwei freien Tage verbrachten wir in der Metropole Boston. Der Grossraum zählte ca. 5 Mio. Einwohner. An der Ostküste gelegen fanden sich hier, nebst der Wall Street in New York, ebenfalls ein weiterer gewichtiger Finanzplatz. Elite-Universitäten wie Harvard in Cambridge und Yale (bekannt durch die Logenverbindung von „Skulls and Bones“ (3),  kultivierten geistiges Leben jeglicher Art. Die Bostoner Symphoniker und Philharmoniker sind weltberühmt, weswegen die verschiedensten Musikinstitute der Stadt Studenten aus der ganzen Welt anziehen – viele auch aus dem asiatischen Raum. Es herrschte eine entspannte Stimmung auf der Strasse, in den vielen Parks, welche grüne Erholungsräume zwischen den kontroversen architektonischen Stilrichtungen der Innenstadt bieten, wo sich historische britische Reihenhäuser an funkelnde Glaspaläste anschliessen. Der Premieren-Besuch eines Musicals im Boston Opera House über das Leben der populären amerikanischen Songschreiberin Carole King stand an dem einen Abend auf dem Programm. Die Teilnahme an einem Gratiskonzert des Jugendorchester des New England Conservatory unter Leitung von David Loebel anderntags. Eine bunt gemischte Schar betrat locker und heiter die altehrwürdige Hall – und mit dem ersten Bogenstrich stellte sich die schlagartige Erkenntnis ein: hier spielen Profis! Präzision und Dynamik, gepaart mit Leichtigkeit und Witz. Und erst der brasilianische Pianist Cristian Budu: nicht nur ein Meister der leisen Töne, sondern schönster Einklang mit der Orchester. Dass dieser bescheidene Könner auch noch Anthroposoph ist, hörten wir erst hinterher. Wahrhaft paradiesische Zustände für Musikstudenten, Gratiskonzerte wurden  nämlich an fast jedem Abend woanders angeboten.

„Das andere Amerika“ (4)

Auf dem Weg zum letzten Gastspielort gab es einen Zwischenhalt in Concord, dem Wirkensort von Ralph Waldo Emerson (1803-1887), der ganze Generationen von Dichtern und Denkern inspiriert hat. In Ergänzung zur äusseren staatsrechtlichen Unabhängigkeitserklärung der ersten Gründerstaaten 1776, schrieb er eine Art „innere geistige Unabhängigkeitserklärung.“ Aus Emersons Essays wird deutlich, weshalb Rudolf Steiner ihm einen besonderen Platz zuwies: hätte er mit seiner anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft nicht an die Naturwissenschaft Goethes anknüpfen können, so hätte ihm ebenso Emerson ein Wegbereiter sein können.

Concord entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem Rückzugs- und Schaffensgebiet von verschiedenen literarischen Grössen, u.a. wie Henry David Thoreau, Elizabeth Palmer Peabody, und Margret Fuller, die ihre Selbsterkenntnis an eine vorgängige Naturerkenntnis anschliessen. Von diesem Kreis der Transzendentalisten in Neuengland gingen wesentliche Impulse zur Sklaven-befreiung, zur Entstehung der Frauenbewegung und zur Naturschutzbewegung aus.

„Denn edlen Seelen vorzufühlen ist wünschenswertester Beruf.“ (2)

Die letzten zwei der insgesamt zehn Aufführungen führten wir in Wilton bei Beverly Boyer, unserer zweiten Peking-Bekanntschaft,und dem Lehrer Robert Sim, an der dortigen Oberstufenstufenschule “ High Mowing Scool“ auf. Das 75 Jahre alte Institut ist das einzige in Nordamerika, indem mehr als die Hälfte der 110 Schüler die Internatsform gewählt haben, also intern wohnen. Viele ausländische Schüler, vor allem aus Asien, aber auch aus Mexiko schätzen diese Rundumbetreuung. Die etwas kleinere Hälfte der Schülerschaft besucht den Unterricht der Tagesschule.  Die Morgenaufführung für die 9.-12.-Klässler kam gut an – natürlich  beschäftigt man sich an einem solchen Ort mit Shakespeare. Wir hatten es also wieder mit einem Fachpublikum zu tun, dem Respekt gebührte – insbesondere einige der Schüler hier, mit einem wirklich bemerkenswerten Selbstbewusstsein ausgestattet waren. Die letzte Aufführung dann, für Eltern und Freunde der Schule, war ein kleines Fest. Es gab in den verschiedenen Institutionen viele einzelne Eurythmisten, die künstlerisch tätig sind, gewachsene Ensembles aber, gab es weniger zu beschauen. Einen „sinnlich-sittlichen“ Gesamteindruck zu vermitteln, und die Begeisterung für die Eurythmie zu wecken, war unser Anliegen. Dazu gehört entschieden die Beleuchtung als künstlerisches Gestaltungsmittel. Nicht umsonst nannte Rudolf Steiner den Beleuchter doch einen Licht-Eurythmisten, der mittels flutendem Licht das Bühnen-geschehen ergänzt und bereichert! Dieser Forschungsaufgabe widmet sich das „Lichteurythmie-Ensemble“. Es war für uns auch eine besondere Freude, dort aufzuführen, wo Ehrenfried Pfeiffer in Amerika gelebt und gewirkt hat. Als junger Ingenieur hatte dieser mir Rudolf Steiner die Beleuchtungsanlage im ersten Goetheanum-Bau entwickelt, und dann alle Eurythmie-Aufführungen zu Steiners Lebzeiten „beleuchtet.“ Mit Hilfe unserer pflanzengefärbten Prospekte versuchten wir nun drinnen, an das Farbenfeuer des Indian Summers draussen anzuknüpfen. Für das herzliche Willkommen und die grosse Offenheit sei unseren amerikanischen Gastgebern aufs Beste gedankt.

Gabriela Maria Gerber, Sprachgestalterin

Anmerkungen: (1) Eurythmie: Annette und Hans-Peter Strumm, Katja Pfähler, Thomas Sutter; Sprache: Karin Croll und Gabriela Maria Gerber, Musik: Christoph Gerber; Beleuchtung: Sylvia Sutter.   (2) J. W. von Goethe: Das Vermächtnis.      (3) Europa im amerikanischen Weltsystem, Andreas Bracher. (4) R. W. Emerson und die wahre Unabhängigkeitserklärung des modernen Menschen, Thomas Meyer, Zeitschrift: Der Europäer, Jahrgang 1, Nr. 2, 1996